Die Schattenseiten von Silvester – Gesamt

„Wann zünden wir den Riesenvulkan?“ – „Na, ganz am Ende, als Finale. Wir haben doch so viel, wahrscheinlich wird sogar was übrigbleiben.“ Diesen Dialog höre ich seit Jahren am Silvesterabend in verschiedenen Variationen, so gegen 20:00 – 21.00 Uhr. Dann geht es nämlich los, mit ein paar befreundeten Familien zum traditionellen „Knallerplatz“. Wir haben dieses Jahr, im Gegensatz zu den anderen, auf Silvestereinkäufe verzichtet, nicht zuletzt wegen: „Und die ganzen Vögel! Für die muss das ja der Horror sein.“ – „Die fliegen ja in ihrer Panik bis zu 1.000 Meter hoch, um vor den Raketen zu fliehen, normalerweise fliegen die nur bis höchstens 100 Meter.“

Panik unter Vogelkreisen

So hatte ich das bis jetzt auch nicht gesehen. Eine Recherche ergab: Ornithologen vermuten schon lange, dass die „Böllerei“ bei Vögeln regelrechte Massenpaniken auslöst, da am Neujahrstag ungewöhnlich viele tote Vögel und zertrampelte, verlassene Brut- und Ruhestätten aufgefunden wurden. Aber bewiesen wurde es erst zum Jahreswechsel 2007/2008, als niederländische Forscher die Wetterradarmessungen aus der Nähe von Utrecht analysierten, mit denen sich nicht nur Regen, Schnee oder Hagel beobachten lassen, sondern auch schwebende Feststoffe, wie Vögel. Die Ergebnisse waren erschreckend: Am 31. Dezember gegen 24:00 Uhr explodierte die Vogelaktivität förmlich. Bis zu 12.000 Vögel flogen über einer Fläche von einem Quadratkilometer, bis weit nach Mitternacht hielt die offensichtliche Massenpanik an. Erst nach 45 min. beruhigte sich die Lage langsam, aber einige Vögel blieben insgesamt bis zu einer Stunde in der Luft. Das verbraucht wertvolle Energiereserven, die im Winter wegen der jahreszeitlich bedingten Futterknappheit schwer wieder aufzufüllen sind. Auch verlieren die Vögel in ihrer Panik die Orientierung, kollidieren mit Fahrzeugen und Gebäuden, finden nicht mehr zu Elterntieren oder Nestern zurück.

Die Frage des Geldes

Den anderen Familien scheint das nicht bewusst zu sein, als sie ihre Feuerwerke zünden. Ein paar Raketen, Vulkane, Batterien… Einer meiner Brüder bezahlte 100€ seines Taschengeldes dafür, ein entfernter Verwandter sogar 500€- und das jedes Jahr. Tatsächlich gaben die Deutschen 2018 insgesamt 100-200 Mio.€ für Feuerwerkskörper aus. Damit könnte man im Südsudan rund 2,4 Mio. Menschen ein Jahr lang medizinisch versorgen (mehr dazu auf www.focus.de).

https://utopia.de/feuerwerk-arbeitsbedingungen-china-indien-35189/

Und dieses Geld landet dann meist in China oder Indien, den Hauptproduzenten für Feuerwerkskörper. In deren Fabriken sieht es dann meistens so aus: Kinderarbeit (allein in Indien arbeiten ca. 70.000 Kinder ab 5 Jahren in der Feuerwerksindustrie), unfaire Löhne, mangelnder Schutz vor Giftstoffen und Chemikalien, sehr hohes Berufsrisiko; das volle Programm. Im September 2019, gab es bei einer Explosion in einer indischen Fabrik für Feuerwerkskörper mindestens 21 Tote.

„Jeder 9. der Angestellten leidet unter Asthma oder Tuberkulose. Ursache hierfür ist der direkte Kontakt mit chemischen Substanzen (…), zudem finden aufgrund mangelnder Sicherheitsvorkehrungen zahlreiche Unfälle statt (…).

https://utopia.de/feuerwerk-arbeitsbedingungen-china-indien-35189/ (Jugend eine Welt)

Wirkliche Alternativen?

Wenn man das jetzt so liest, kommt ja (hoffentlich) ziemlich schnell der Gedanke: „Das muss doch auch anders gehen!“ Nun ja, es gibt ein Unternehmen, Weco, dass immerhin zu 40% in Deutschland produziert, dass das in den nächsten Jahren um ganze 50% steigern will und das heute 60% Marktanteil in Deutschland hat. In einem Interview antwortete ein Sprecher von Weco auf die Frage, ob das Unternehmen damit zu 60% an den jährlichen 4.500 Tonnen Silvesterfeinstaub schuld wäre:

„Das Umweltbundesamt hat zu Silvester 2016 von 4.000 Tonnen gesprochen, zu Silvester 2017 von fast 5.000 Tonnen und spricht aktuell von 4.500, ohne dass eine Schwankung im Absatz von Feuerwerkskörpern festzustellen war (…). Sicher erzeugen Feuerwerke ein gewisses Maß an Feinstaub, und unser Unternehmen trägt mit einem Marktanteil von etwa 60 Prozent rechnerisch den anteilig größeren Teil dazu bei. Aber auch wenn die vom Umweltbundesamt kommunizierte Feinstaubmenge stimmen sollte, würde das bei der durch den Mensch verursachten jährlichen Menge von 221.000 Tonnen – eine Zahl des Umweltbundesamts – nur etwa zwei Prozent ausmachen. Verglichen mit anderen Feinstaubverursachern wird die Umwelt bei Feuerwerk in der Silvesternacht aber nicht ganzjährig belastet, sondern nur kurz. Zumeist ist eine erhöhte Feinstaubbelastung durch das Silvesterfeuerwerk nach ein bis drei Stunden abgeklungen. Die Tages-Mittelwerte des Umweltbundesamts für den 1. Januar 2018 geben das auch deutlich wieder. „

https://www.t-online.de/leben/familie/id_84963956/silvester-2018-das-sagt-ein-feuerwerk-hersteller-zu-dem-feinstaub-problem.html

Die Frage der Gesundheit

Trotzdem, Studien zufolge wurden an Silvester 2019 in mehr als 20 deutschen Städten Überschreitungen der EU-Richtlinie von 50 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter Luft (µg/m³) gemessen – und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält schon alles über 20 µg/m³ für gefährlich. Diese Werte werden immerhin eingeatmet: Stundenwerte von 1000µg/m³ und mehr sind in den Großstädten an Silvester keine Ausnahme mehr. Unter anderem erhöhen Feinstaubpartikel in Lunge, Bronchien & Co. das Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle, diverse Lungenkrankheiten (darunter auch Lungenkrebs) und verursachen auf Dauer Atembeschwerden. Teilchen mit einem Durchmesser von unter 2,5 Mikrometern könnten sogar über den Riechnerv ins Gehirn gelangen und so Intelligenz und Gedächtnis beeinträchtigen. Und nur, weil die gemessene Feinstaubbelastung in den Städten am dann 1. Januar im Tagesverlauf merklich abklingt, heißt das ja nur, dass der Staub verteilt wurde und nicht nach ein paar Stunden seine Existenz für beendet erklärte.

Vom Anfangen…

Manche Leute halten diese Feinstaubzahlen dennoch für vergleichsweise unbedenklich (vor allem aufgrund Vergleichswerten in China und dem Jahresdurchschnitt der deutschen Feinstaubproduktion – wir erinnern uns: „221.000 Tonnen – eine Zahl des Umweltbundesamts“) und pochen darauf, doch lieber erst mal beim Fliegen, Kaffeetrinken (die bösen Einwegkapseln) oder der Weihnachtsbeleuchtung einzusparen. Natürlich ist das auch wichtig, aber dazu könnte man dann auch wieder sagen: „Kreuzfahrten sind doch noch viel problematischer, genauso wie der Plastikmüll und die Wasserverschwendung. Da sollte man anfangen!“ und der Spaß geht von vorne los. Vielleicht fängt jeder einfach da an, wo er möchte, und keiner meckert mehr über die anderen? So nach dem Motto: vorleben statt missionieren. Denn sonst würden wir ja nie irgendwo anfangen.

…und Aufhören

Laut einer Umfrage von Yougov, einem internationalem Meinungsforschungsinstitut, sieht die Einstellung der Deutschen Silvester gegenüber nämlich so aus:

https://yougov.de/news/2018/12/17/die-deutschen-sind-bei-silvesterknallern-skeptisch/

Das ist doch schon mal etwas. Auch verzichten mittlerweile ein paar Supermärkte, wie EDEKA Meyer’s oder REWE Koch, auf den Verkauf von Feuerwerkskörpern. In Schweden dürfen diese ab Juni 2019 nur an Personen mit Sondergenehmigung verkauft werden, in Frankreich ist Privatfeuerwerk vielerorts ganz verboten, sogar in Paris, wegen des hohen Verletzungsrisikos. Sie haben doch bestimmt schon von so etwas wie Knalltrauma gehört? Aber um zurück zum Thema zu kommen: als Alternative werden öffentliche Feuerwerke für die Allgemeinheit gezündet. Und auch in Deutschland gibt es schon kleine Verbotszonen; die deutsche Umwelthilfe fordert ein Böllerverbot für Innenstädte und plädiert ebenfalls für professionelle Feuerwerke an zentralen Plätzen. Also, es entwickelt sich; und in der Zwischenzeit werfen wir den Kaffeekapselautomaten aus dem Fenster und fahren in den nächsten Urlaub mit dem Nachtzug:).


Quellen: 
www.umweltbundesamt.de (02.2020)       
www.utopia.de (02.2020)
www.focus.de (02.2020)
www.t-online.de (01.2020)
www.vogelundnatur.de (01.2020)
www.liga-vogelschutz.org (01.2020)
www.akiv-gegen-kinderarbeit.de
www.tagesspiegel.de (01.2020
www.fokus-arztsuche.de (01.2020)
www.geo.de (01.2020)
www.yougov.de (02.2020)
www.statista.de (01.2020)
Beitragsbild: https://www.kanzleikompa.de/wp-content/uploads/2014/12/feuerwerk-maximilianpark-2010_87d80d90cab4a43f3ba19ff0f06aaab1_l.jpg

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